Fachkommentar zum Film

von Ralf E. F. Lemke

 

Ein guter Film. Ein wichtiger Film.

Auf den ersten Blick ein Film über die Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland.

Der Film zeigt, wie es trotz des aufrichtigen Bemühens aller Beteiligten nicht gelingt, Zugang zu einem Kind zu finden. Er zeigt, was schiefläuft, er stellt Fragen an das „System“ – das der Kinder- und Jugendhilfe und der ganzen Gesellschaft – und er liefert wertvolle Hinweise, wie es besser laufen könnte.

 

Die 10-jährige Benny ist in einer Wohngruppe gelandet.

Die Chancen, dass sie bald wieder nach Hause zu ihrer Mutter kann, sind gut.

Wir erleben eine engagierte Sozialarbeiterin, die mit Herz bei der Sache ist und sich sehr für Benny einsetzt. Wir sehen zugewandte Pädagogen in den Wohngruppen. Wir fiebern mit einem jungen Schulbegleiter mit, der sich mit Herz und Verstand und vollem Einsatz um Benny kümmert.

Wir haben eine verständnisvolle und warmherzige Psychiaterin und eine interessierte Lehrerin.

Das sind bessere Voraussetzungen als ich sie im Durchschnitt in meiner Tätigkeit als Supervisor erlebe.

Und wir haben mit Benny ein Mädchen, das intellektuell wach und emotional erreichbar ist.

Trotzdem gelingt es dem „System“ (um diesen Ausdruck des Filmtitels aufzunehmen) nicht, Zugang zu Benny zu finden und ihr den Halt zu geben, den sie benötigt; ja man hat eher den Eindruck, dass der Graben am Ende größer ist, als er zu Beginn war.

Und das liegt nicht an Benny!

Also – und das ist das eigentlich Brisante – was läuft falsch im „System“?

Hier wird der Film für alle interessant. Denn es geht eben nicht nur um die Kinder- und Jugendhilfe, auch die kann nur so gut sein, wie der gesellschaftliche Rahmen und unsere Konventionen ihr erlauben.

Was ist nun m. E. zu hinterfragen?

 

1. Die Schulpflicht

Die Schulpflicht ist in Fällen wie bei Benny ein dauernder Druck auf alle Beteiligten, der Heilung verhindert.

Wenn ein Erwachsener Burnout oder eine ähnliche Diagnose bekommt, dann wird er oder sie nicht selten ein halbes Jahr, ein ganzes Jahr oder sogar noch länger krankgeschrieben. Das ist sinnvoll, weil ein überlastetes Nervensystem nicht von außen repariert werden kann. Es braucht Zeit und Ruhe, sich selbst zu regenerieren.

Das wird Benny (und anderen Kindern) nicht gewährt. Drei Wochen Auszeit im Wald oder 6 Wochen in der Psychiatrie sollen reichen. Dann soll das Kind gefälligst wieder funktionieren. Dass sich Benny im Film bei der Ankunft nach 3 Wochen im Wald in der Wohngruppe dagegen auflehnt, war zu erwarten – und ist im Grunde eine gesunde (wenn auch durch traumatischen Trigger verstärkte) Reaktion.

Die meisten Kinder geben in der vergleichbaren Situation auf und fügen sich. Ein wenig gebrochener als vorher.

 

2. Die Arbeit mit den Eltern

Wer trägt die Hauptverantwortung für das Ergehen von Kindern? Ja, die Eltern.

Wenn sie es also – aus welchen Gründen auch immer – nicht schaffen, mit ihren Kindern weiter zusammenzuleben, dann müsste in der Hauptsache mit ihnen gearbeitet werden.

Im Film gibt es keine einzige Szene, wo mit der – hier als sehr schwach dargestellten – Mutter gearbeitet würde. Dass es auch noch einen Vater gibt, wird überhaupt nicht thematisiert. Stattdessen erlebt sich die mit Recht auf die schwache Mutter (und wohl genauso auf den abwesenden Vater) wütend reagierende Benny als die Versagerin. Von ihr wird Einsicht erwartet, ohne dass ihr Zorn verstanden wird.

Es gab diesbezüglich eine aufschlussreiche Szene: Als der Schulbegleiter mit Benny während der Zeit im Wad ein Echo ausprobiert, ruft Benny laut und zunehmend verzweifelter nach ihrer Mutter. Es kommt keine Antwort. Das hält der Schulbegleiter wunderbar aus. Dann fragt Benny ihn (ich zitiere aus dem Gedächtnis): Warum hasst mich meine Mutter? Seine rasche Antwort: Sie liebt dich doch bestimmt. – Schade!

Wieso fällt es so schwer zu verstehen, dass ein Kind sauer ist auf seine Eltern, wenn es von diesen weggegeben wird?

 

3. Der Umgang mit emotionalen Ausbrüchen – zum Beispiel Wut

Der Umgang mit solchen Wutausbrüchen, wie sie Benny hat, gehört auf den Prüfstand.

Leider beschränkt sich das gezeigte Eingreifen der Fachkräfte auf Krisenintervention. Diese erfolgt im Film oft viel zu spät – und führt für Benny zu demütigenden Erlebnissen, wenn sie nicht sogar in der Psychiatrie landet.

In einer Szene am Anfang wird Benny durch eine Berührung im Gesicht heftig angetriggert und es kommt zu einer Prügelei unter den Kindern der Wohngruppe. Der Erzieher kommt, schickt alle Kinder ins Haus, rennt selbst samt seinen Kollegen schnell dort hinein und lässt die hilflos tobende Benny im Hof zurück. Die Kamera schwenkt und schaut aus der Perspektive von Benny zum Haus: Im Obergeschoss stehen die Kinder und schauen neugierig bis schadenfroh herunter; im Erdgeschoss die hilflosen Erzieher.

Diese Situation ist wahrlich nicht geeignet, Vertrauen wachsen zu lassen.

Später im Wald gibt es eine vergleichbare Situation. Doch hier bleibt der Schulbegleiter da, nimmt Benny in den Arm, erträgt das Toben – und das Kind beruhigt sich. So kann hilfreiches Handeln aussehen!

Es braucht ein neues Verhältnis zu pädagogischer Körperlichkeit. Aus der Traumatherapie wissen wir, dass ein erregtes Nervensystem sich am leichtesten zur Ruhe bringen lässt durch einen anderen Menschen, durch dessen Ruhe und Klarheit, durch dessen angemessene körperliche Nähe.

Hier hält der Film unserer ganzen Gesellschaft einen Spiegel vor: Mit den ominösesten Begründungen und „pädagogischen“ Konzepten enthalten wir unseren Kindern lebensnotwendige Nähe und Körperkontakt vor. Aber Fixierung in der Psychiatrie, Eingriffe durch Polizei und geschlossene Heime gelten als normal. Wir könnten uns viel davon sparen – und den Kindern viel Leid – wenn wir stattdessen menschliche Nähe wieder mehr fördern würden.

 

4. Unrealistische Hoffnungen

Immer, wenn es mal ein kleines bisschen besser läuft, bei jedem neuen Heim, ja selbst als die – sichtbar nicht dazu fähige – Mutter das Kind wieder zu sich nehmen will, keimt bei den Helfern im Film die Hoffnung, dass es nunmehr besser würde. Diese Hoffnungen sind in einem Maße unrealistisch, dass Benny immer wieder zu einer Ent-Täuschung ihrer Umgebung werden muss.

Ich habe den Eindruck, die Dimension ihres Leides ist den meisten Helfern nicht bewusst bzw. sie verschließen – vielleicht auch aus Angst, selbst angetriggert zu werden – davor die Augen.

Aber wie geht es denn einem Kind, das mehrmals versucht wurde mit Windeln zu ersticken? Das seinen Vater nicht kennt und miterleben muss, wie seine Halbgeschwister ihm den Platz bei Mama streitig machen? Das seine Mutter als sehr schwach erlebt – und schließlich deshalb ins Heim muss? Wo findet dieses Kind Vertrauen in die Erwachsenen, wo findet es Halt?

Hier wünsche ich mir mehr Pädagogen, die über Bindung nicht nur etwas theoretisch gelernt haben, sondern an Hand ihrer eigenen Geschichte sich der tiefen Bedeutung von Bindung bewusst sind.

Ich wünsche mir mehr Sozialarbeiter und Pädagogen mit traumapädagogischen Grundkenntnissen. Dann hätte sich mancher Ausbruch von Benny viel eher und damit sanfter abfangen lassen.

 

5. Wo bleiben Prävention und Psychoedukation?

Im Film wird nirgendwo gezeigt, dass sich jemand mit Benny hinsetzt und sie kindgerecht aufklärt über das, was beim Angetriggertsein, z. B. durch Berührung im Gesicht, mit ihr passiert. Jemand, der ihr deutlich macht, dass sie nichts dafür kann, dass ihr Körper so reagiert.

Jemand, der mit ihr erarbeitet, wie sie sich selbst schützen kann. Der mit ihr andere Handlungsmöglichkeiten entwickelt. Der mit ihr übt, neue, angenehme und schöne körperliche Erfahrungen zu machen.

Der Film zeigt erfolgversprechende Ansätze

Der Schulbegleiter im Wald zeigte viel davon, wie es gehen und funktionieren kann. Er fand einen Zugang zu Benny, sie begann sich einzulassen.

Was alles hätte gelingen können, wenn der Schulbegleiter nach 3 Wochen nicht wieder Benny hätte zur Schule zwingen müssen, sondern wenn er sie stattdessen diese 3 oder 4 Stunden am Tag in ihrer Wohngruppe hätte begleiten können! In einem Maß und einem Tempo, was ihr Nervensystem verkraftet.

Es hätte möglicherweise ein halbes oder gar ein ganzes Jahr gedauert, aber s. o. diese Zeit bekommen Erwachsene ja auch. Benny hätte Erwachsene neu als vertrauenswürdig erlebt. Ihr Nervensystem hätte sich allmählich beruhigt. Ihr Sicherheitsgefühl wäre gewachsen. Und ihre Neugier auf das Leben (und auf die Schule) wäre von ganz allein gekommen.

 

Menschen wollen lernen – und wollen sich integrieren.

Wenn sie nicht daran gehindert werden!

 

Über den Autor:

Ralf E. F. Lemke arbeitet als Systemischer Therapeut und Supervisor und setzt sich ein für eine haltgebende und bindungsorientierte Pädagogik, die Kindern und Menschen gerecht wird.

Er schätzt das Systemische Arbeiten sehr und ist fasziniert davon, wie sich das Wissen über Emotionen und Traumatisierung in den letzten Jahren entwickelt hat.

Sein Wissen gibt er weiter am Dresdner Institut für Systemisches Arbeiten (DISA) u. a. in Weiterbildungen für Traumapädagogik, Systemische Beratung sowie besik®-Emotionalarbeit.

Kontakt: r.lemke@disa-dresden.de / www.disa-dresden.de

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