von Luisa Maria Dietrich
Die Doku-Serie „bad vegan“ von Netflix wird überwiegend als zu lang und ihr Ende als zu unklar rezensiert. Für Zuschauer, die auf der Suche nach Sensation und einem/einer „Schuldigen“ sind, mag das zutreffen. Für Zuschauer, die genauer hinsehen, ist es eine bewegende Darstellung von psychodynamischen Verwicklungen und ihren möglichen Folgen:
Die vier Teile zeigen, wie aus einer selbstständigen und intelligenten Frau, eine hörige, verwirrte und letztlich gebrochene Gestalt wird. Ich schreibe bewusst nicht „Opfer“. Denn so erfolgreich sie, Sarma, auch war – glücklich war sie auch vor dem Zusammentreffen mit dem vermeintlichen „Täter“ nicht. Hinter der glamourösen Fassade scheint sie tendenziell bindungsgestört, sozial isoliert und depressiv gewesen zu sein. Der Mann, der in ihr Leben tritt, war das Kind eines gewalttätigen Süchtigen und ist dadurch jemand, der gut erspüren kann, was sein Gegenüber gerade denkt und fühlt. Jetzt ist er, Anthony, der erste Mann der sie „versteht“, ohne dass sie sich verstellen muss oder kann. Jemand der nur das Beste für sie will… und für ihren Hund – das einzige Wesen, mit dem sie sich ernsthaft emotional verbunden fühlt. Anfangs glaubhafte Versprechen und Behauptungen Anthonys, werden über eine lange Zeit immer absurder. Doch weil die Steigerung des Absurden tröpfchenweise erfolgt, fällt es nicht so auf. Denn da die nächste Absurdität noch absurder ist, als die davor, wirkt die davor schon gar nicht mehr so absurd. Erst recht, wenn es um den Hund geht. Emotionale Erpressung vom Feinsten. Und der Teufelskreis nimmt Fahrt auf.
Anthony ist auch deshalb so ein glänzender Ritter, weil er zu einer geheimen Organisation gehört und ausnahmsweise, nur für sie, sein Wissen und die Kontakte von dort zu ihrem Wohl einsetzt. Alles was er dafür von ihr möchte, ist ihr Vertrauen. Und wenn es Probleme gibt? Liegt das natürlich an ihrem fehlenden Vertrauen. Und der Teufelskreis gibt Gas.
Wir nennen das gern Psychospielchen, aber das perfide ist: Sehr wahrscheinlich glaubt Anthony selbst – zumindest für den Moment – was er da erzählt und das macht seine Worte umso glaubhafter. Und als sich der Teufelskreis so schnell dreht, dass der dauerhafte Brechreiz Sarma erahnen lässt, wo sie da hineingeraten ist, scheint es unmöglich da ohne Totalschaden wieder herauszukommen. Und ein bisschen verbietet es ihr auch die Selbst-Erhaltung, sich einzugestehen, dass sie so lange und fundamental auf dem Holzweg war. Der Teufelskreis dreht sich also weiter, bis er von außen gestoppt wird. Das Ergebnis: Totalschaden. Aussichten auf Genesung? Ich wünsch es ihr. Aber ich kann auch nachvollziehen, wenn sie es nicht schafft.
Nebenbei zeigt die Dokumentation auch sehr eindrücklich, wie die Medien diese gepeinigte Frau hochstilisieren, stigmatisieren und damit ein guter Spiegel dafür sind, wie wir als Gesellschaft mit solchen Dramen umgehen oder besser „nicht umgehen können“. Das gemeine ist ja auch: Anthony ist so verrückt, das jedem Zuschauer klar ist, dass er kaputt im Kopf ist. Doch bei ihr ertappe ich mich selber, wie ich beim Zusehen denke: „So blind kann sie doch nicht sein!?“. Doch, sie kann. Jeder kann das, wenn er entsprechend vorgeprägt ist. Und was in dieser Geschichte so unfassbare Ausmaße annimmt, dass auch viele Mitarbeiter von ihr massiv zu Schaden gekommen sind, passiert im Kleinen öfter als es uns bewusst und lieb ist. Es gibt genug Beziehungen, wo eine Seite sagt: „Es läuft bei uns gerade nicht so gut, weil ich nicht genug dies oder jenes mache.“ Für Freunde und Familie ist das zum Haareraufen. Doch selbst wenn nur die Hälfte von „bad vegan“ stimmt, so zeigt diese Dokumentation doch sehr berührend, dass ein Urteil von außen nicht nur „nicht einfach“, sondern schlicht weg unmöglich ist. Diese Menschen brauchen unser größtes Wohlwollen bei gleichzeitiger Vorsicht. Noch besser wäre, wir könnten Kindern bessere Bindungserfahrungen ermöglichen, damit ihre Persönlichkeiten vor solchen Irrfahrten geschützt sind.
Meiner Meinung nach also eine durchaus sehenswerte Serie.
Das Thema berührt dich stark? Dann empfehlen wir dir den Mitschnitt „Mit Narzissten leben“.
Über den Autor:
Luisa Maria Dietrich Kulturwissenschaftlerin, Aufstellerin, Ritualleiterin.
Kontakt: buero@disa-dresden.de / www.disa-dresden.de